Von Sigrid Neudecker
Prokrastination heißt das Verhalten, alleArbeit auf Morgen zu verschieben. Psychologen halten jeden Fünften fürbetroffen. Die Forschung zeigt, wie man der Aufschieberitis Herr werdenkann. Schritt für Schritt - man muss nur damit anfangen.ch habe beschlossen, eine Geschichte über das Thema Aufschieberitiszu schreiben: Irgendwann Mitte 2003. Bücher zum Thema bestellt: Anfang2004. Diese Bücher erstmals aus der Verpackung genommen: Vor fünfWochen. Sich vor unangenehmen Dingen zu drücken ist ganz natürlich -oder eine ernste Störung.
Willkommen in der großen Familie der Aufschieber! Ich bin eine vonihnen, ein mittelschwerer Fall, nach allem, was ich bislang darüber inErfahrung bringen konnte. Ich gehöre nicht zu den harmlosen "Morgenräume ich endlich den Keller auf" -Aufschiebern, aber auch nicht zu denschweren Fällen, die überhaupt nichts mehr auf die Reihe kriegen, mit35 noch immer dasselbe Studium verfolgen, aber seit Jahren keinenSchein mehr gemacht haben. Ich gebe meine Texte zu spät ab, bezahleseit 14 Monaten ein Fitness-Studio, ohne einmal trainiert zu haben,schreibe meine Rechnungen immer erst nach Monaten und schaffe es seitdrei Jahren nicht, meine Steuererklärung zu machen.
Chronische Aufschieber strotzen vor guten Vorsätzen. Ich nehme mirseit Jahren vor, meine Steuer zu machen. Jedes Wochenende. Stattdessenputze ich Fenster, wische Böden, sortiere alte Kleidung aus undsortiere Zahnstocher nach Länge. Lauter Ersatztätigkeiten, die ich niegemacht hätte, stünden sie "offiziell" auf meiner To-do-Liste, die miraber das Gefühl geben, ja doch "etwas Sinnvolles" getan zu haben. DieSteuer kann ich dann ja nächstes Wochenende machen, aber dann ganzbestimmt.
Es ist nicht so, dass sich Aufschieber nicht vor Konsequenzenfürchten würden. Ich habe schon zweimal draufgezahlt, weil dasFinanzamt meine Steuer geschätzt hat. Darauf bin ich nicht stolz, undes ist auch nicht lustig. Aber sowie ich das Geld überwiesen hatte, warsofort das Gefühl da: Fürs Erste bist du aus dem Schneider. Und derriesige Stapel mit unsortierten Belegen wanderte an den äußersten Randdes Schreibtischs. Mir wurde von einem ehemaligen Chef auch schon eineGehaltskürzung angedroht, wenn ich nicht pünktlicher abgäbe. Worauf ichgekündigt habe. (In Wirklichkeit wollte er ohnehin nur Geld sparen.)Aufschieber haben immer Gründe, warum nicht. Sie sind talentierteAusredenerfinder, Selbstbetrüger und nie schuld. Ich bin im Verkehrstecken geblieben, ein Anruf in letzter Sekunde hat mich aufgehalten,mein Schreibtisch musste erst freigeräumt werden, die Zahnstocher warennoch nicht sortiert. Aufschieber leiden unter ihrem Verhalten. Ichbeobachte mich selbst und frage mich, ob ich noch ganz dicht bin. Undwas mich davon abhält, mich einfach einen Abend lang an denSchreibtisch zu setzen und den ganzen Kram zu erledigen.
"Einem chronischen Aufschieber zu sagen: 'Tu's einfach!', ist so,wie einem Depressiven zu sagen, er solle doch einfach mal fröhlichsein", sagt Joe Ferrari, Psychologe an der DePaul University inChicago. "Was diese Leute brauchen, ist eine Verhaltenstherapie."Ferrari ist einer der Vorreiter bei der Erforschung vonProkrastination, wie Aufschiebeverhalten wissenschaftlich heißt (pro - für, cras- morgen). Das Forschungsgebiet ist relativ jung, seit Mitte derachtziger Jahre kümmert sich die Wissenschaft um uns. Doch ihre ersteErkenntnis ist schon einmal eine der wichtigsten: ChronischeProkrastination, also das gewohnheitsmäßige Aufschieben einerTätigkeit, die erledigt werden muss, ist nicht etwa eine schlechteAngewohnheit, die man mit strenger Hand und einer ordentlichenKopfwäsche einfach abstellt. Sie hat auch nichts mit mangelndemZeitmanagement zu tun, sondern ist eine handfeste Arbeitsstörung. Wasden chronischen Aufschieber freilich prompt dazu bringt, zu sagen: "Ichhabe eine Störung! Ich kann gar nicht anders!", die Hände in den Schoßzu legen und jeden Experten nach einem Attest fürs Finanzamt zu fragen.
Das Thema Prokrastination wird vor allem im akademischen Bereicherforscht. Studenten, frisch von der Schule ins Uni-Leben geworfen,haben am häufigsten Schwierigkeiten damit, sich selbst zu organisieren(oder zu regulieren, wie es korrekt heißt). Ihnen drohen aber auchständig Konsequenzen, wenn sie zu spät beginnen, für Prüfungen zulernen, oder Semesterarbeiten nicht rechtzeitig abgeben.
Bislang wurden zwei grundlegende Aufschiebe-Typen identifiziert: Derarousal procrastinator und der avoidance procrastinator (siehe Kasten).
Unangenehme Erkenntnis: Es gibt immer einen Grund fürs Aufschieben. Auch wenn man den vielleicht gar nicht wissen will.
"Aufschieben", sagt Hans-Werner Rückert, "spielt bei vielenProblemen eine Rolle, die Leute in Therapie gehen lassen: aufgeschobenePartnerschaftskonflikte, Trennungen. Es gibt auch eine nennenswerteAnzahl von Menschen, die Arztbesuche rausschieben. Viele Menschenverachten sich sehr dafür, dass sie sich immer wieder vornehmen, etwaszu tun, und es dann doch wieder hinausschieben."
Im Prinzip ist jeder Mensch ein geborener Aufschieber.
Aufschieber haben Schwierigkeiten, ihre Aufgaben zu priorisieren.Einem langfristigen Projekt, bei dem die Belohnung (der Abschluss) nochin weiter Ferne liegt, lassen sie gern eine kurzfristige Aufgabedazwischen kommen, deren erfolgreicher Abschluss viel schneller zueinem Erfolgserlebnis führt. Bei ihnen ist die Fähigkeit, beideProjekte objektiv zu vergleichen, irgendwann verschütt gegangen,weshalb sie die Wertigkeit von Aufgaben, die noch in ferner Zukunftliegen, viel geringer schätzen, als das "normale" Menschen tun würden.
Über die Gründe, warum man zu einem Prokrastinator wird, herrschenunter den Experten noch unterschiedliche Ansichten. Für Joe Ferrariliegt die Ursache ganz klassisch im Elternhaus: "Wenn Sie kalte,fordernde Eltern haben, haben Sie keine andere Möglichkeit, zurebellieren, als Sachen einfach nicht zu tun." Dem Urteil einesbesonders strengen Vaters entziehe man sich am besten, indem man dieAufgaben liegen lässt - und ihm so keine Grundlage für eine Beurteilungliefert.
Fred Rist, Leiter der Psychotherapie-Ambulanz an der UniversitätMünster, meint jedoch: "Die Theorie mit dem strengen Elternhaus ist nursehr schwach gestützt. Das ist einer unter vielen Einflussfaktoren undtrifft vielleicht für zehn Prozent zu. Man kann nicht so ohne weitereseine einheitliche Theorie darunter legen. Der richtige Ansatzpunkt ist:Warum werden mir andere Tätigkeiten wichtiger? Dafür gibt es dieunterschiedlichsten Gründe."
Rist und seine Kollegin Margarita Engberding arbeiten seit über zweiJahren intensiver am Thema Prokrastination. Sie hören sich gemeinsammit ihrer Studentin Julia Patzelt meine unendliche Steuer-Geschichtean, lächeln wissend und sagen hin und wieder Sachen wie: "Ihr Ärgerüber sich selbst hat ja auch eine Funktion: Er bestraft Sie. Sie habenalso dafür gelitten, dass Sie es nicht gemacht haben, insofern istwieder Gerechtigkeit hergestellt." Oder: "Sie lassen die Möglichkeiten,etwas anderes zu tun, viel stärker zu. Ihr Vorhaben, an der Steuer zuarbeiten, ist überhaupt nicht gegen andere Absichten abgeschirmt." DieAbsicht, kurz noch die E-Mails zu checken, zum Beispiel. Fred Rist ruftseine nur noch einmal pro Tag ab. Und ich hatte auf Lobeshymnengewartet, als ich mein Programm von "minütlich" auf "alle vier Minutenabfragen" umstellte! (Im Moment läuft mein Mail-Programm übrigensüberhaupt nicht! Ich fürchte die ersten kalten Schweißausbrüche.)
Und dann sagt Margarita Engberding den wunderbaren Satz: "Wenn es umunangenehme Tätigkeiten geht, ist es natürlicher aufzuschieben. Warumsollten Kinder bei den Hausaufgaben sitzen? Es gibt auch keinen Grund,wieso Sie an Ihrer Steuererklärung sitzen sollten. Es ist nichtangeboren, und es ist keine sich natürlich verstärkende Tätigkeit.Deshalb haben viele andere Dinge eine größere Chance."
Im Prinzip ist also jeder Mensch ein geborener Aufschieber! Es kommt nur auf die Schmerzgrenze an. "Wir nennen das den avoidance-avoidance-Konflikt",erklärt Rist. "Einerseits wollen Sie die unangenehme Arbeit vermeiden,andererseits aber auch die unangenehmen Folgen. Je näher die Deadlinekommt, desto mehr antizipieren Sie die negativen Konsequenzen, wenn Siesie nicht einhalten. Das eine Unangenehme überwiegt das andere."
In Münster werden gerade drei Module getestet, dieprokrastinierenden Studenten helfen sollen: "Pünktlich anfangen","Realistisch planen" und die Methode der "Lernrestriktion". "In zweivon fünf Sitzungen wird nur daran gearbeitet, wie man sich einen ganzkonkreten Zeitpunkt setzt und ob man es tatsächlich geschafft hat,genau zu diesem Zeitpunkt zu beginnen", erklärt Engberding."›Realistisch planen‹ zielt auf die Selbstüberschätzung ab. Vieleglauben, man könnte Dinge in viel kürzerer Zeit schaffen." (WenigeMinuten zuvor hatte ich im Brustton der Überzeugung versichert, ichkönne ein komplettes Steuerjahr locker in drei oder vier Stundenabarbeiten.)
Bei der Lernrestriktion wird den Studenten ein bestimmtes, zunächsteher kurzes Lernfenster zugestanden. Zu Beginn liegt es bei mindestens20 Minuten pro Tag. Davor und danach gilt ein striktes Lernverbot. Nurwenn sie dieses Fenster eingehalten haben, dürfen sie am nächsten Tagetwas länger arbeiten. "Man denkt beim Aufschieben ja immer, dass manes auch später noch machen kann", sagt Engberding, "und verdirbt sichdamit eigentlich auch die Zeit. Wir wollten schauen, wie weit sichdadurch die motivationale Dynamik etwas mehr verstärkt."
Karotte vor der Nase statt Peitsche am Hintern. Hatte nicht auch einKollege mit Hang zu technischen Spielereien erzählt, er versüße sichdie Buchhaltungsarbeit, indem er sie mit der neuesten Software erledige?
Vielleicht verschafft mir ja ein Gang in die Höhle des Löwen endlichden nötigen Druck, um die Steuersache zu erledigen. Dieter Hantzsch,der Vorsteher meines Finanzamts, zeigt sich verständnisvoll: "Wenn manseine Steuer macht, wird einem ja auch vor Augen geführt: Wie viel istmeine Tätigkeit wert? Vielleicht kommen dann ja auchWertschätzungsfragen dazu." Es stellt sich heraus, dass ich in guterGesellschaft bin: Bis zum ersten Abgabetermin (für alle, die keinenSteuerberater haben) am 31. Mai hatten im vergangenen Jahr gerade mal22 Prozent der Hamburger Gewerbetreibenden und Selbstständigen ihreEinkommensteuererklärung abgegeben. Zum zweiten Abgabetermin am 30.September (für alle "steuerlich Beratenen") waren es 2005 immer nocherst 44 Prozent. In den anderen Bundesländern liegen diese Zahlenhöchstens 5 bis 10 Prozent darüber. Anreize, pünktlich abzugeben, gibtes wieder nur in Peitschenform. "Es gilt der wilhelminische Grundsatz",erklärt Hantzsch, "wer die Fristen einhält, wird nicht bestraft. Dasist vielleicht heutzutage, wo der Kunde üblicherweise für Wohlverhaltenbelohnt wird, überprüfungsbedürftig, aber so ist es." Dabei sind dieFristen tatsächlich durchaus gnädig. Fünf volle Monate, um ein paarBelege zusammenzusuchen? Was ist daran so schwierig? "Es kann jageradezu ein lustvolles Sammeln werden", lockt der Vorsteher, "wenn Siedaran denken, dass Sie mit diesen Ausgaben Ihre Steuerlast mindernkönnen. Sie sollten mal ausprobieren, wie Sie sich fühlen, wenn Sie malalles abgeschlossen haben! Steuererklärung als Wellness-Programm!"
"Gerade bei der Steuer kommen ein paar Faktoren zusammen, die dasAufschieben massiv vorantreiben", sagt Hans-Werner Rückert."Intelligente Menschen neigen dazu, renitent zu werden, wenn man ihnenmit Forderungen und Strafandrohungen kommt. Das heißt in derPsychologie Reaktanz und bedeutet, dass man sich gegen dieEinschränkung der subjektiven Freiheiten wehrt. Aber ich kenne auchviele Leute, die vom Fiskus was zurückkriegen und ihre Erklärungtrotzdem vor sich herschieben."
Sollte die Finanzbehörde also strenger mit Leuten wie mir umgehen?Keine Nachfristen gewähren, uns Deadline-Junkies die Knarre vor dieNase halten? Wenn es nach Joe Ferrari ginge, dann ja. "Meineitalienische Großmutter pflegte zu sagen: Manche Menschen verlassen denStrand erst, wenn ihnen das Wasser bereits an den Hintern klatscht. Undwas tun wir? Wir helfen ihnen und verrücken das Handtuch für sie. Dasbedeutet, dass wir es vielen erst ermöglichen zu prokrastinieren. Wirlassen sie davonkommen." In vielen Ländern sei Aufschieben geradezu einKavaliersdelikt, sogar seine Studenten fragten immer wieder nach dem"wirklichen Abgabetermin. Nein, dem wirklich echten." Das System derBelohnung, in der Psychologie ein wichtiges Element zur positivenVerstärkung, würde viel besser funktionieren. "Wir bestrafen die, diezu spät sind. Wir geben dem frühen Vogel zu selten seinen Wurm." FredRist stimmt Ferrari zu: "Erinnern Sie sich, welche Erleichterung Sieverspürt haben, als Sie erfuhren, dass es doch noch eine Möglichkeitgibt, die Steuer nachzureichen? Man wird dafür belohnt, dass manversucht aufzuschieben!"
Den genialen Aufschieber, der im letzten Moment ja dann doch nochalles schafft, umgeben auch immer noch bewundernde Legenden: "DieseKriegsberichte von der Front intellektueller Arbeit, dass man nach dreidurchgearbeiteten Nächten schweißüberströmt das Manuskript in denBriefkasten geschmissen hat, hören die Studierenden ja auch heute nochvon Hochschullehrern", sagt Hans-Werner Rückert. "Vor allem in denGeistes- und Naturwissenschaften war man doch gar kein richtigerMensch, wenn man nicht einen Berg hatte, den man vor sich herschob."
Studenten fragen oft nach der "wirklich echten" Deadline.
Ab einem gewissen Stadium darf Prokrastination nicht unterschätztwerden. "Unsere Untersuchung hat ergeben: Mit hohemProkrastinationskurs geht depressive Verstimmung einher", sagt FredRist. "Wer die Regelstudienzeit hinter sich hat und auch nochprokrastiniert, ist in aller Regel depressiv. Ich denke schon, dass mandas als eigenständige Störung ernst nehmen muss."
So weit soll es nicht kommen. Zu all meinen guten Vorsätzen kommen hiermit einige neue, konkrete dazu:
Und da in allem Schlechten auch etwas Gutes steckt, hat mir Fred Rist vor wenigen Tagen noch eine aktuelle Studie geschickt: Rethinking Procrastination: Positive Effects of "Active" Procrastination Behavior on Attitudes and Performance("Prokrastination neu betrachten: Positive Effekte 'aktiven'Prokrastinationsverhaltens auf Einstellungen und Leistung"). WenigeWochen zuvor war ich gemäß seiner Analyse noch eine "strengeProkrastinatorin", die sich nicht erlaubt, statt der Steuer lieber eineDVD zu gucken, sondern lieber putzt und schrubbt. "Das bringt Ihnen Ihrinneres Gleichgewicht", kommentierte Margarita Engberding damals, undich meinte, einen ironischen Unterton in ihrer Stimme gehört zu haben.Laut der neuen Studie, die 2005 im Journal of Social Psychologyerschien, gibt es sehr wohl auch gute Seiten an uns. "AktiveProkrastinatoren schieben genauso stark auf wie passiveProkrastinatoren", schreiben Angela Hsin Chun Chu von der ColumbiaUniversity in New York und Jin Nam Choi von der McGill University inMontreal. Aber: "Wenn etwas Unerwartetes auftaucht, wechseln sie dieGangart und kümmern sich um die neuen Aufgaben, die ihnen dringendererscheinen. Aktive Prokrastination könnte sogar von Vorteil, wenn nichtgar notwendig sein, wenn jemand in einer nicht vorausplanbaren, sichschnell verändernden Umgebung arbeitet. Hier könnten aktiveProkrastinatoren sogar effizienter als andere arbeiten, weil sie nichtstur ihren vorher festgelegten Plan weiterverfolgen, sondern spontanauf unerwartete Ereignisse reagieren können."
Epilog: Ich wollte hier auch noch das Gefühl beschreiben, wie esist, endlich alle Unterlagen beim Steuerberater abgegeben zu haben. Eshat leider nicht mehr ganz funktioniert. Ich wollte wirklich, aber mankommt ja zu nichts. Doch sobald ich hier den letzten Punkt getippthabe, setze ich mich dran! Versprochen!