Im Westen ist Ai Weiwei vor allem als Kritiker des chinesischen Regimes bekannt, weshalb die obengenannten wirtschaftlichen Aspekte in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle spielen. Seine Verhaftung erklärt man allgemein mit der Angst der Kommunistischen Partei vor den möglichen Auswirkungen der Umstürze in der arabischen Welt auf China. Wenn das wirklich die Ursache ist, so überschätzen sowohl die Partei als auch der Westen das revolutionäre Potenzial des chinesischen Volkes.
Es gibt ein noch viel trüberes China als das in westlichen Medien geschilderte diktatorische und totalitäre Reich der Mitte. China wird heute weniger von der Partei als vom Geld regiert. Die heutigen Chinesen, von den ärmsten bis zu den reichsten, streben nur nach Geld. Das hat mit der Traumatisierung durch das Tiananmen-Massaker von 1989 und mit dem Kurswechsel der Partei danach zu tun. Die Partei hat mit ihrer Politik der wirtschaftlichen Öffnung nach 1989 das Land in einen Konsumrausch gestürzt. Die heutigen Chinesen kommen kaum mehr nach, ihre durch die neue Warenwelt geweckten Begierden zu befriedigen. Demgegenüber sind Freiheit und Demokratie abstrakte, leere Begriffe, die bei der Mehrheit der Chinesen auf Unverständnis stossen.
Die vom Westen betonten Unterdrückungsmassnahmen existieren zwar nach wie vor, aber sie sind nicht mehr die eigentlichen Stabilisatoren der chinesischen Gesellschaft. Stabilisierend wirken vor allem der durch den neuen Materialismus verursachte extreme Egoismus und die Indolenz der Chinesen der Politik gegenüber. Niemand, der von diesem Materialismus zu profitieren glaubt, stellt das chinesische System in Frage.
Keine tiefgründige Kritik
Warum ist das im Zusammenhang mit Ai Weiwei erwähnenswert? Weil schwer zu begreifen ist, inwiefern Ai ein ernst zu nehmender Regimekritiker sein soll. Mit seinem effektiven Erwirtschaften von Geld fügt er sich sehr gut in das geschilderte chinesische System ein. Abgesehen vom Künstlerberuf übt Ai Weiwei seit über zehn Jahren den Beruf des Architekten aus. Er entwarf Pärke, Museen, Luxusvillen und nicht zuletzt das Olympiastadion. Seine Auftraggeber waren entweder lokale Regierungen oder parteinahe Immobilienmagnaten. Bekanntermassen lassen sich in China Bauprojekte nur in enger Zusammenarbeit mit der Partei realisieren und gehen fast immer mit Zwangsenteignung, Vertreibung der Anwohner und extremer Ausbeutung der Wanderarbeiter einher. Auf all das liess sich Ai Weiwei, der «Regimekritiker», ein.
Seit Ende 2005 betreibt Ai Weiwei seine Art der Regimekritik per Blog. Geht man Ai Weiweis Blog-Einträge durch, so zeigt sich, dass seine Kritik hauptsächlich in der Beschimpfung der Partei sowie Rufen nach Freiheit und Demokratie besteht. Zwar ist Ai Weiweis Mut, dies in der Öffentlichkeit zu tun, zu bewundern. Solche pauschalen, rein plakativen Aussagen aber finden vor allem im Westen Gehör, sie zielen nicht auf die chinesische Realität ab. Es gibt viel ausführlichere und tiefgründigere Analysen der chinesischen Gesellschaft, wie die des bereits verstorbenen Schriftstellers Wang Xiaobo oder die des bekanntesten Internet-Bloggers, Han Han. Insbesondere für die gebildeten Schichten Chinas besitzen ihre Texte einen hohen aufklärerischen Wert. Dagegen sind Ai Weiweis Einlassungen leer und nichtssagend.
Eine zweite Form effektiver Regimekritik ist diejenige mit konkreter Nennung von Namen und Fakten. Immer wieder decken namenlose, engagierte Bürger Korruptionsfälle auf, die zum Sturz mächtiger Politiker führen. Ai Weiwei aber vermeidet das Entlarven von Regime-Angehörigen. Die Liste der Namen der beim Erdbeben von 2008 umgekommenen Kinder war zwar unangenehm für die Partei, hat diese aber nicht wirklich tangiert, zumal sie die Zahl der Getöteten und der Vermissten nie verschwiegen hat. Mutiger wäre die Veröffentlichung einer Liste der Namen der während der Kulturrevolution oder des Tiananmen-Massakers von 1989 Getöteten, denn bis heute herrscht darüber Totenstille in China.
Eine dritte effektive Form von Regimekritik ist die Gründung von Sozialinitiativen, die sich oft im Untergrund vollziehen muss. Beispielsweise gründete Liu Mang Yan «das Volksbüro für die Frauenrechte», das sich besonders für die Rechte Prostituierter einsetzt. Dabei muss man wissen, dass Prostitution in China verboten ist. Solche konkreten Sozialinitiativen fehlen bei Ai Weiwei völlig.
Eine vierte Form der Regimekritik ist besonders zu betonen. Man kann sie insbesondere bei einigen Künstlern und Intellektuellen beobachten. Statt die Partei täglich zu beschimpfen wie Ai Weiwei, gehen sie einfach ihren eigenen künstlerischen oder geistigen Weg. Sie wahren die geistige Unabhängigkeit, bewahren die geistigen Werte und setzen dadurch einen Kontrapunkt zur allherrschenden blinden Geldgier, die letztlich die Partei an der Macht hält. Sie sind der Sand im Getriebe des Regimes. Je grösser die Zahl dieser Menschen wird und je mehr sie den Chinesen als Vorbild dienen, desto brüchiger wird das Regime.
Zhu Ling ist Galeristin für chinesische Gegenwartskunst in Berlin.
[外媒報道] 艾未未背後的瑞士藝術寡頭(上)http://www.wyzxsx.com/Article/view/201111/274192.html